11.11.2019
"Wir waren keine Helden" - Gedenken und Gedanken zu 30 Jahren Wiedervereinigung

Der 30. Jahrestag des Mauerfalls am 9. November 1989 wurde mit Podiumsgespräch, Kerzenumzug und Andacht begangen. 

"Wir waren keine Helden." Mit diesen Worten schlug Rüdiger Lux in seiner Andacht im Naumburger Dom den Bogen zwischen Reichspogromnacht und Mauerfall am 9. November. Auslöser für beide Ereignisse waren Lügen - die antisemitischen Lügen im Nationalsozialismus wie auch die Lügen, auf denen der sogenannte antifaschistische Schutzwall basierte. Die Lügen führten zur „Nacht der Schande“ und zur „Nacht der Freude“. Die friedliche Revolution war der Versuch, den Lügen zu entkommen und die Wahrheit zu erlangen. Erreicht wurden die Freiheit zu reisen, die Meinungsfreiheit und die D-Mark. Diese machten aber die Menschen nicht zu besseren Menschen. Der freie Mensch muss lernen, Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen. Freiheit verlangt zu allererst, die Wahrheit über sich selbst zu erkennen. „Wir waren keine Helden“ resümierte Rüdiger Lux am Ende seiner Andacht im Hinblick auf die Ereignisse am 9. November 1989.

Die Andacht war damit ein gelungener Abschluss für das vorausgegangene Podiumsgespräch im Rathaus. Auch dort ging es nicht um Helden, sondern um die Erfahrungen von Menschen, die die friedliche Revolution nicht als Gallionsfiguren vorangetrieben haben, deren Leben aber durch die Wende eine Wende nahm.

Kai-Uwe Hesse zum Beispiel, der als junger Mann aus dem Osten nach Bayern kam und sich dort sagen lassen musste, er habe einen Sprachfehler. Nur durch seine Arbeitsleistung konnte er die Vorurteile gegen ihn als Ostdeutschen entkräften. Was für gegensätzliche Erfahrungswelten da aufeinander prallten, machte Hesse auch daran deutlich, dass er sich als Jugendlicher in der DDR dafür hatte verteidigen müssen, dass er statt Jugendweihe Konfirmation machen wollte. In Bayern musste er dann mehrfach seine Kirchenmitgliedschaft vorweisen, um von einigen Firmen die Beratungsaufträge anvertraut zu bekommen.

Von ähnlichen Schwierigkeiten im gegenseitigen Miteinander konnte auch Naumburgs Oberbürgermeister Bernward Küper berichten. Er kam als Jura-Assistent aus Münster an die Uni Jena. Dort wurde er von der Stadt Weißenfels um Hilfe gebeten, da die Stadtverwaltung im neuen System schlechte Erfahrungen gemacht hatte mit windigen Vertretern und Juristen aus dem Westen. Küper half der Kommune, sich auf die neuen Verhältnisse und Anforderungen, Herausforderungen und Stolperfallen einzurichten. Und er blieb im Osten. Für ihn ist die Lebensqualität hier besser als in mancher Stadt in Nordrhein-Westfalen, wo es zum Beispiel keine Ganztagsbetreuung für Kinder gibt.

Stefan Neugebauer, heutiger Intendant des Naumburger Theaters, war schon vor der Wende ein Wanderer zwischen beiden Systemen. Er litt unter der Enge der DDR. Nur in den Berliner Friedensgruppen, die sich in den Kirchen trafen, fühlte er sich wohl. Seine Ausreise in den Westen 1988 war eine Befreiung. Er kannte die satte, westliche Wohlstandsgesellschaft und die unruhige, aufgeladene Stimmung im Osten. Die Entwicklungen nach der Wende waren aus seiner Sicht nicht glücklich. Die DDR-Bürger hätten die Opferrolle nach der Wende zu sehr verinnerlicht. Heute müssten die Menschen im Osten wieder lernen, sich aufzurichten und aufrecht zu gehen. Diese Erfahrung hatte er in der DDR-Friedensbewegung gemacht. Dafür sieht er heute das Theater aber auch die Kirchen wieder stärker in der Pflicht.

Ebenso sah es auch Ingrid Sobottka-Wermke, die Superintendentin des Kirchenkreises Naumburg-Zeitz, die die Leistung der Kirche in der DDR besonders hervorhob. Sie betonte aber auch, dass selbst die Kirchen im Westen in den 80er Jahren viel politischer waren und Raum für Dialog boten, z.B. für die Umweltbewegung. Die politische Bedeutung der Kirche sollte heute wieder deutlicher werden.

Den energischsten Appell des Abends startete aber die 21 Jahre junge Katharina Schade, die die Wendegeschehnisse nur aus Erzählungen und Geschichtsbüchern kennt. Auch wenn der politische Osten und der politische Westen in ihrer Generation gesellschaftlich kaum mehr eine Rolle spielt, so ist sie sich gewisser Unterschiede dennoch bewusst, z.B. bei den Einkommensunterschieden. Aber auch die Frage, warum im Osten deutlich mehr AfD gewählt wird, beschäftige sie sehr. Dafür nahm sie OB Küper direkt in die Verantwortung. Es sei die Aufgabe von Kommunalpolitikern, mehr mit den Menschen zu sprechen und politische Entscheidungen zu vermitteln und dafür nicht einfach auf die höheren politischen Vertreter zu verweisen.

Mit diesem tagespolitischen Appell endete das Podiumsgespräch, das von der Wende ausgehend den Blick ins heute gelenkt hatte. Es wurde deutlich, dass der 9. November 1989 nicht ein „Happy-End“ war, sondern ein Tag an dem Geschichte und Geschichten begannen, die es wert sind erzählt und wahrgenommen zu werden, denn diese sagen sehr viel aus über unsere Verhältnisse heute. Die Podiumsveranstaltung wiederholte nicht zum dreißigsten Mal, wie Menschen die Wende gemacht haben, sondern sie hat aufgezeigt, was die Wende mit den Menschen gemacht hat.

Beim anschließenden Imbiss wurden die Diskussionen intensiv weitergeführt und viele Erlebnisse vom 9. November 1989 und die Zeit danach kamen zu Sprache, bevor dann alle gut gestärkt, mit Kerzen an der Wenzelskirche bei den Klängen des Posauenchores der Friedlichen Revolution gedachten und dann mit ihren Kerzen zur Andacht im Dom zogen.


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